Mit kürzer werdenden Tagen und zunehmend längerem Winterfell diskutieren Pferdebesitzer wieder das Für und Wider von Pferdedecken. Spätestens dann sind auch Stallbetreiber gefordert, einen Deckendienst anzubieten oder mit schlüssigen Argumenten abzulehnen.
Nicht nur Ponys können mit ihrem Winterfell Kälte und Nässe vom Körper fernhalten. Voraussetzung ist allerdings ein gutes Raufutterangebot.
Der Pferdeorganismus ist ein Kraftwerk, das Bewegung und Wärme erzeugen kann. Der Erhalt der Körperkerntemperatur innerhalb einer kleinen Toleranzspanne ist überlebenswichtig und sehr gut entwickelt. Die Komforttemperatur, auch thermoneutrale Zone genannt, von Pferden liegt zwischen minus 15 und plus 25 Grad, im Optimum bei 5 Grad trockener Kälte. Damit bewegen sich Pferde im Bereich von Milchkühen und weit entfernt von menschlichen Kuschelbedürfnissen. Erst unter minus zehn Grad beginnen gesunde Tiere mit einem intakten Winterfell, über die Intensivierung des Stoffwechsels zusätzliche Wärme zu produzieren.
Die Anatomie, der Stoffwechsel und das Verhalten haben wesentlichen Einfluss auf die Thermoregulation. Am sichtbarsten ist die Entwicklung des Winterfells, das durch Photoperiodismus und eine Veränderung der Außentemperaturen ab Ende August zu wachsen beginnt. Abhängig von der geographischen Herkunft der Pferderasse ist es bei Südpferden eher kurz und fein und bei nordischen Rassen meist lang, mit dicken Haaren und ausgeprägter Unterwolle. Diese Unterschiede sind auch innerhalb einer Rasse in verschiedenen Klimazonen zu beobachten. So haben Islandpferde aus dem gemäßigten und vom Golfstrom geprägten Südwesten mit einem Klima, das dem von Hamburg entspricht, ein kürzeres und feineres Fell als Pferde aus dem subpolaren Nordosten der Insel. Ähnliches kann man aber auch bei Südpferden beobachten.
Outdoorschutz mit Muskelkraft
Wie bei der Gänsehaut des Menschen richten auch beim
Pferd die Haarbalgmuskeln die Haare auf oder legen sie an und sorgen so
je nach Temperatur für mehr oder weniger Isolation und die Möglichkeit,
über den Luftstrom an der Haut Wärme abzugeben. Mit einer Decke wird
diese Muskeltätigkeit unterbunden. Allerdings ist auch die
Thermoregulation des Pferdes auf regelmäßiges Training angewiesen.
Die Talgschicht auf Haut und Haaren entspricht der
Wetterschutzimprägnierung. Die längeren, spitz zulaufenden Deckhaare
legen sich bündelweise aneinander und lassen Regen und langsam
schmelzenden Schnee nach außen abfließen. Auch Schweiß wird auf diese
Weise bei intaktem Fell nach außen abgeleitet. Während das Fell außen
noch nass ist, ist die tiefere Schicht bereits trocken. Das Pferdefell
funktioniert wie die Hightech-Membran moderner Outdoorbekleidung. Zu
gründliches Ausbürsten des Talges – und des Schmutzes an Stellen
außerhalb von Sattel- und Gurtlage und im Bereich des Zaumes – reduziert
den Nässeschutz des Fells erheblich und ist lediglich eine ästhetische
Maßnahme.
Die Fähigkeit, sich erfolgreich mit Nässe auseinanderzusetzen, wird
durch das Scheren vollständig zerstört. Die nachwachsenden Haare sind
stumpf und nicht mehr zur Wasserableitung in der Lage. Dieses kann viel
leichter auf die Haut durchdringen und zur Auskühlung führen. Das
Scheren wird neben dem Argument, dass das Pferd durch die Arbeit zu nass
zurück in den Stall kommt, häufig auch praktiziert, um sich das
aufwendige Putzen des Winterfells zu sparen.
Kritisch kann es für das Pferd in der Tat werden, wenn es von innen und
außen gleichzeitig nass ist, das heißt zum Schweiß Niederschlag oder
nebelfeuchte Luft von außen kommt. Die Wärmeleitfähigkeit von feuchter
Luft ist weitaus größer als die von trockener Luft und der
Energieverlust an diesen Tagen größer. Dennoch ist es für die Tiere
wichtig, dass durch Kältereize die Thermoregulation gefordert wird, da
diese auch eng mit dem Immunsystem zusammenhängt und dieses stimuliert.
Der Konflikt kann in der Praxis vermieden werden, wenn das Pferd an
solch nasskalten Tagen in ruhigerem Tempo, aber dafür länger bewegt
wird. Starkes Schwitzen ist vielfach auch bei gestressten Pferden unter
dem Sattel zu beobachten.
Schur zerstört Thermoregulation
Schnee und Wasser perlen bei intaktem Winterfell am Deckhaar ab.
Der Einfluss des frühen Eindeckens im Spätsommer auf das
Fellwachstum ist geringer als vielfach erwartet. Eine Teil- oder
Komplettschur zerstört die Thermoregulation vollständig und setzt das
Pferd ungeschützt der vorherrschenden Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder
Wind aus. Eine Decke kann dies nur bedingt ausgleichen und ist aufwendig
im Handling. Vor allem im Herbst und Frühjahr, bei hohen
Tagestemperaturschwankungen, müsste sie mehrmals täglich in ihrer
Isolationsfähigkeit angepasst werden, um ein Überhitzen oder Frieren zu
vermeiden. Regelmäßiges Umdecken verhindert auch Druck- und
Scheuerstellen. Bei geschorenem Fell kann der Schweiß bei hoher
Luftfeuchtigkeit nur mithilfe von leistungsfähigen Abschwitzdecken von
der Haut abgeleitet werden. Pferde würden sich bei freier Wahl zum
Trocknen vorübergehend an einem leicht windigen und luftigen Ort
aufhalten, nicht dagegen in feuchtigkeitsübersättigter Stallluft.
Die Haut spielt als größtes Organ eine wesentliche Rolle in der
Thermoregulation. Sie wirkt aufgrund ihrer Stärke – mit 3,2 mm ist sie
aufgrund der dickeren Kollagenschicht unter der Oberhaut um ein Viertel
dicker als die des Menschen – wie eine Isolierung. Unter der Haut kann
das Pferd die Wärmeabgabe über die arterielle Gefäßverengung und
–erweiterung regulieren und das Körperinnere kühlen oder den
Wärmeverlust reduzieren. Eine weitere Maßnahme ist die Schweißbildung,
die dann eintritt, wenn das Pferd den Anstieg der Körpertemperatur
allein durch eine Erweiterung der Gefäße nicht mehr verhindern kann. Der
Schweiß sorgt für Verdunstungskälte auf der Hautoberfläche. Vor allem
in der Übergangszeit birgt das die Gefahr, dass dicke Thermodecken das
Pferd tagsüber schwitzen lassen und die Decke möglicherweise feucht
wird. Dann kann es in den Nachtstunden zum Unterkühlen des Pferdes
kommen, da es vorhandenes Fell nicht aufstellen und ein isolierendes
Luftpolster schaffen kann.
Isolierendes Körperfett
Das Körperfett spielt bei Pferden als Energiereserve wie auch
zur Isolation eine wichtige Rolle. Das muss bei der Rationsgestaltung
berücksichtigt werden. Aus diesem Grund darf es in den aktuellen
Diskussionen um EMS und Hufrehe nicht per se schlechtgeredet werden,
sondern muss dem Pferd in angemessener Menge zugestanden werden. Für
wildlebende Pferde ist es völlig normal, im Herbst bis zu 20 Prozent
Gewicht zuzulegen. Da im Stallbau die Innentemperatur der
Außentemperatur folgen sollte und ein stark isolierter oder schlecht
durchlüfteter Stall nicht tiergerecht ist, sind Jahreszeiten für den
Pferdeorganismus auch bei ganzjähriger Stallhaltung Realität. Wird ein
geschorenes Pferd dagegen zum Reiten abgedeckt, wirkt das wie ein
plötzlicher Temperaturschock, auf den das Pferd mit hoher
Bewegungsaktivität, von Reitern gerne als Arbeitswille bis hin zur
„Spinnerei wegen der Kälte” fehlinterpretiert, reagiert.
Dem Argument, dass große im Südtyp stehende Pferderassen aufgrund des
kürzeren Fells weniger Kälte vertragen, steht die wissenschaftliche
Erkenntnis entgegen, dass ein größerer Körper im Verhältnis zur
Körpermasse eine geringere Körperoberfläche und entsprechend weniger
Wärmeverluste hat als eine kleine Statur. Das Großpferd ist im Hinblick
auf Wärmeverluste hier sogar im Vorteil. Das erklärt auch, weshalb
Ponys, Kleinpferde und Fohlen ein längeres und dickeres Winterfell
bilden als ausgewachsene Großpferde. Damit entsprechen Pferde dem
allgemeinen Naturphänomen, dass gleiche Tierarten in kalten Klimazonen
stets kleinere Individuen von gedrungener Statur
hervorbringen.
Heizmaterial kommt aus der Raufe
Haben sie einen trockenen Unterstand, werden nicht geschoren und im Winter angepasst trainiert, können auch Warmblüter der Kälte ohne Decke trotzen.
Neben dem Abbau von
körpereigenem Fett stellen Pferde vor allem aus der Verdauung
rohfaserreichen Futters Wärmeenergie bereit. Der normale
Erhaltungsbedarf ändert sich im Bereich der thermoneutralen Zone bei
Windstille und Trockenheit erst, wenn Luftfeuchtigkeit und
Windgeschwindigkeit wesentlich zunehmen.
Das niedersächsische Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten setzt in seinen Empfehlungen für die Freilandhaltung von Pferden
bei Temperaturen für jedes Grad Celsius unter –15 °C für Großpferde
einen zusätzlichen Energiebedarf von 1,7 MJ an.
Der Pferdeheilpraktiker Manfred Huber aus Breisach hat in einer
umfassenden wissenschaftlichen Literaturrecherche vorhandene
Veröffentlichungen ausgewertet und gibt an, dass „Pferde 0,2 bis 2,5 %
mehr Energie für die Aufrechterhaltung ihrer Körpertemperatur pro
sinkenden 1 °C Außentemperatur unterhalb ihrer kritischen, niedrigsten
Körpertemperatur benötigen.” Die Spannweite ergibt sich aus
individuellen Anforderungen einzelner Individuen. Gesunde Pferde mit
einem normalen oder etwas üppigeren Speckpolster benötigen später eine
Raufutterzulage als ältere Tiere, solche mit einem schwachen Immunsystem
sowie Absetzer und Jungpferde. Kalte Temperaturen sollten jedoch nicht
zum „Abschmelzen” von Fettpolstern durch extrem restriktive
Raufutterrationen genutzt werden, da dies zu Stress und einem negativen
Einfluss auf das Immunsystem führt. Hier ist gemäßigtes Ausdauertraining
im aeroben Bereich viel sinnvoller, sofern der Reiter über ausreichend
Härte bei kalten Temperaturen verfügt.
Pferde neigen im Winter zu einer Reduzierung der Stoffwechselaktivitäten
und damit einhergehend geringeren Bewegungsaktivitäten. Das haben auch
Forscherinnen der Universität Göttingen in Untersuchungen bestätigt.
Insofern ist das dicke Winterfell nicht der Grund, dass ungeschorene
Pferde weniger „Lust” haben zu arbeiten. Ihr Körper passt sich lediglich
den natürlichen klimatischen Rahmenbedingungen an, auf die sie in ihrer
langen Entwicklungsgeschichte konditioniert wurden. Hierzu gehört aber
auch, dass bei einem plötzlichen Temperatursturz Phasen erhöhter
Bewegungsaktivität zu beobachten sind, in denen Pferde durch erhöhte
Muskelarbeit die benötigte Wärme produzieren, bis die anderen
Stellmechanismen der Thermoregulation auf die veränderte Situation
reagieren und beispielsweise eine erhöhte Raufuttermenge den Dickdarm
erreicht hat.
Artgerechte Haltung
Pferde können ihre körpereigenen
Schutzmechanismen wie die Thermoregulation und das Immunsystem nur dann
optimal nutzen und trainieren, wenn sie unter Bedingungen gehalten
werden, die ihren natürlichen Bedürfnissen am nächsten kommen.
Im Schluss heißt das, nicht unwirtliches Winterwetter macht Pferde
krank, sondern vielmehr unangemessene Haltungsbedingungen und die
unangepasste Ausübung des Reitsports in der „natürlichen
Winterruhephase” von Pferden. Offenställe mit ausreichend
Witterungsschutz für alle Herdenmitglieder bieten Pferden die
Möglichkeit, ihren leistungsfähigen natürlichen Anlagen entsprechend auf
kalte und nasse Witterung zu reagieren.
In Einzelstallhaltung können Pferde viele dieser Verhaltensweisen und
physiologischen Vorgänge aufgrund von stallklimatischen Bedingungen oder
einem intensiven Training nicht für sich nutzen. Scheren und Eindecken
hat hier nur einen vordergründigen Nutzen, birgt aber das Potenzial für
viele Fehler und einen erheblichen Arbeitsaufwand. Dies gilt es
insbesondere bei der Haltung von sogenannten Freizeitpferden kritisch
abzuwägen.